Am Treffpunkt bei der Grabenhalle in St. Gallen wartete ein knappes Dutzend gespannter SGEG Mitglieder auf den kommenden Abstieg in die Unterwelt. Wir wurden begrüsst von Roger Bennet, der uns unsere Gastgeber vorstellte: Frau Zürcher vom Staatsarchiv St. Gallen und den Hüter mit Schlüssel für den Zugang zum geheimnisvollen Grabentunnel.
Er bedankte sich bei unserem Mitglied Toni Heer für die Idee dieser Exkursion und die Mithilfe bei der Organisation.
Der Grabentunnel ist aus verschiedenen Gründen NICHT zugänglich und für die SGEG wurde eine sehr seltene grosse Ausnahme gemacht, die wir herzlich verdanken.
Die Grabenhalle war einst die Turnhalle eines abgebrochenen Schulhauses und wird heute als vielseitiges Lokal kulturell genutzt. Am Ende der Grabenhalle, quasi hinter den Kulissen des Eventlokals, befinden sich mehrere unscheinbare verschlossene Türen.
Dahinter führt eine steile Treppe mit Rillen und einer eingelassenen Seilrolle in die Tiefe…
Der heute „Grabentunnel“ genannte unterirdische Raum war einst ein offener Einschnitt durch den die am 25. Oktober 1856 eröffnete einspurige Linie der St. Gallisch-Appenzellischen Eisenbahn (SGAE) nach Rorschach führte. Genutzt wurde der in einer Stadt rare freie Raum des Grabens der einstigen Stadtbefestigung. Daher der Name.
Bereits um 1880, nach dem Bau zusätzlicher Bahnstrecken im Raum St. Gallen wurde der Bahnhof zu klein und die Einspurstrecke Richtung St. Fiden war ein Engpass, der sich mit dem von der Bodensee Toggenburg Bahn BT geplanten Bau einer Strecke nach Romanshorn weiter verschärfte.
Es folgte eine lange Planungszeit, in deren Verlauf der Entscheid getroffen wurde, die Einspurstrecke nach St. Fiden auf Doppelspur zu erweitern, was aus Platzgründen den Bau eines Tunnels durch den Rosenberg verursachte. Der Tunnelbau startete 1906. Wegen etlicher bautechnischer Schwierigkeiten erfolgte der Durchstich erst 1911. Im Frühling 1912 wurden die beiden Gleise gestaffelt in Betrieb genommen.
Nebst dem Bau eines neuen Bahnhofs sollte auch noch eine Hauptpost entstehen, wobei die stolze St. Galler Stickindustrie auf repräsentative Bauten pochte und dies auch finanziell unterstützte. Mit dem Bau des neuen Bahnhofs konnte 1911 begonnen werden und am 23. Dezember 1913 fand die feierliche Eröffnung statt.
Interessant wäre es, Genaueres über die Umbauschritte vom alten zum neuen Bahnhof zu erfahren, da zeitlich gestaffelt die Gleisachse gedreht, ein neues Gebäude erstellt und die Ausfahrt nach St. Fiden geändert wurde, was wohl zu Provisorien führte.
Das ehemalige Bahntrasse wurde von der Stadt St. Gallen übernommen, die es für den Strassenbau und einen sehr kurzen Teil vom Bahnhof St. Fiden zum Schlachthof (heute beim Autobahnanschluss neben der OLMA) mehrere Jahrzehnte lang als Anschlussgleis verwendete.
Warum der offene Einschnitt der alten Strecke nicht einfach aufgefüllt, sondern mit einem Gewölbe zum Tunnel ergänzt wurde, gab Anlass zu eifrigen Diskussionen unter den Teilnehmern. Es gibt eine Foto vom Gewölbebau, die auf 1912 datiert sind, was belegen würde, dass dieser erst nach Einstellung des Bahnbetriebs erfolgte.
Dass das Gewölbe und die Stützmauern nicht gleichzeitig erstellt wurden, ist heute noch gut sichtbar wegen der unterschiedlichen Machart der Steine und der Fügungen. Eher ungewöhnlich ist der Tunnelquerschnitt mit dem deutlich nach aussen geneigten unteren Teil der ehemaligen Stützmauern.
Gesichert ist, dass der neu entstandene unterirdische Tunnelraum für etliche Jahrzehnte von einer Weinfirma gemietet wurde. Zur Verteilung und zum Transport der Fässer wurden in Tunnelmitte Schienen eingelegt, die noch sichtbar sind.
Der Grabentunnel erwies sich als weitläufiger als erwartet (knapp 135m). Im hinteren Teil befinden sich Einbauten, welche die Schienen unterbrechen, das heisst später eingebaut wurden.
Die Einbauten und Nummerierungen der Abteile erinnerten viele Teilnehmer an ähnliche Einrichtungen in Festungen. Sofort begannen wilde Spekulationen, die auf eine militärische Nutzung tippten: Lager, oder Schutzbauten?… Dokumentiert ist eine militärische Nutzung (bisher) nirgends. Die gebildeten Räume sind vergleichsmässig klein und mit nur 6 Meter Überdeckung, wäre der Nutzen sehr begrenzt. Immerhin wäre man versteckt und der schwache Schutz besser als nichts…
Da die Feuerwehr erwiesenermassen Übungen im Tunnel abgehalten hat, könnten die Einbauten auch von ihr stammen. Warum aber die Nummerierungen? Der Hintergrund der Einbauten bleibt ein Rätsel und würde für genauere Forschungen ein interessantes Feld bieten…
Eine letzte grosse Überraschung war eine Inschrift mittig oben im Tunnelgewölbe, die wir erst beim Gehen direkt beim Eingang entdeckten. Wir glauben Sect(tions) Ing(enieur) Pestalozzi entziffern zu können. Pestalozzi war Bahningenieur bei der St. Gallisch-Appenzellischen Eisenbahn und hatte ein eigenes Ingenieurbüro, beides wäre also möglich. Das Gewölbe mit dem Schriftzug «Sect Ing Pestalozzi» dürfte zur einstigen Überführung der Metzgergasse gehört haben. Es könnte sein, dass ein Kurztunnel weiter westlich bestand, im Bereich der heutigen Abschlussmauer.
Nach einem kurzen Spaziergang quer durch die Stadt St. Gallen (gerne hätte man als Ortsfremder von den anwesenden Kennern den einen, oder anderen Hinweis gehört…) erreichten wir die Gebäude des Staatsarchivs St. Gallen.
Dort durften wir spannende Vorträge über deren Arbeit und die Sammlung anhören. Nebst vielen Dokumenten aus staatlichen Ämtern hütet das Staatsarchiv St. Gallen private Archive (z.B. Foto Gross) und Industriearchive, insbesondere Teile des Archivs der Flug und Fahrzeugwerke Altenrhein.
Dessen Fotoarchiv wurde einst getrennt in einen Teil Flugzeugbau, der nun in St. Gallen liegt und einen Teil Eisenbahnen, der via Bombardier in die Hände von SGEG gelangte. Wie sich zeigt, ist die Trennung nicht überall exakt erfolgt und es gibt auch Bilder, die beides zeigen.
Umso wichtiger ist die gute und ergänzende Zusammenarbeit zwischen dem Staatsarchiv St. Gallen und der SGEG, die wir mit diesem Besuch vertiefen konnten.
Unser Mitglied Toni Heer unterstützt das Staatsarchiv St. Gallen bei der Erschliessung dieser Schätze mit seinem technischen Background, seinen (eisenbahntechnischen) Fach- und Ortskenntnissen und dem Wissen über einen Archivaufbau.
Er hat uns in einem packenden Vortrag einige Beispiele gezeigt und uns Fotos und zugehörige Kommentare für diesen Bericht zur Verfügung gestellt.
Das Staatsarchiv St. Gallen betreibt (wie auch das Staatsarchiv Basel) einen digitalen Lesesaal (DLS). In diesem öffentlich zugänglichen Auftritt im Internet kann jedermann Fotos und Dokumente suchen.
Toni Heer hat uns freundlicherweise eine Nutzer- Bedienungsanleitung zur Verfügung gestellt, die hier abgerufen werden kann.
Ein Hinweis in eigener Sache: das Staatsarchiv St. Gallen hat viele Kontaktkopien von Eisenbahn Werkfotos der FFA digitalisiert und schreibt in den Kommentaren «Negativ verschollen». Das können wir hier auflösen: das Negativ liegt als Folge der FFA Archivauftrennung in Rollmaterial und Flugzeugbau in den allermeisten Fällen bei der SGEG. Die Erfassung (ohne Digitalisierung) der Negative FFA ist weit fortgeschritten und in bahnarchiv.ch abruf- und recherchierbar.
Auf einer nachfolgenden Besichtigung durften wir zum Abschluss die endlosen Reihen von Rollschränken, aber auch ein paar Leckerbissen eisenbahnbezogener Originale anschauen.
Herzlichen Dank an alle Gastgeber die uns diesen abwechslungsreichen Nachmittag ermöglicht haben.
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