Warum diese aufwändige Zugsformation? Da möchte ich etwas ausholen und für einmal tiefer in die Technik schauen.
Bis und mit Re 6/6 beschafften die SBB und alle anderen Bahnen Stufenschalterlokomotiven. Diese erhöhten die Traktionsleistung in Stufen mittels Anzapfungen am Transformator. Diese schlagartige Erhöhung der Zugkraft (gut spürbar in den Wagen hinter der Lokomotive) erlaubte nur einen sehr einfachen Schleuderschutz. Als Optionen beim Eintreten von Schleudern stand Sand, der Bremsklotz und das Zurückschalten einer, oder mehrerer Stufen zur Wahl.
Das änderte dramatisch mit dem Auftauchen von Lokomotiven mit Anschnittsteuerung (bei Gleichstrombahnen mit Chopper), und später mit Umrichtern. Nun konnte die Zugkraft schnell und stufenlos verändert werden, womit man den Beginn des Schleuderns bis an die Grenzen auskitzeln konnte.
Bei umfangreichen Adhäsions- Messfahrten mit der BLS Re 4/4 161 und den Ge 4/4 II der RhB stellte man fest, dass man mit einem Makroschlupf von 3 bis 5 km/h am meisten Drehmoment auf die Schiene bringen, also die höchste Zugkraft erreichen konnte. Makroschlupf bedeutet, dass sich das Rad der Lokomotive um wenige km/h schneller dreht, als sich die Lokomotive translatorisch bewegt. Dabei dreht das vorlaufende Rad meist am Schnellsten, da es die schlechtesten Schienenverhältnisse antrifft (der Makroschlupf führt dank der freigesetzten Wärme- und Reibungsenergie zu einer „Reinigung“ der Schienenoberfäche). Dazu kommt, wie Fachleute wissen, natürlich die Entlastung des vorlaufenden Rades wegen der Hebelarmwirkung der Beschleunigungskräfte im Drehgestell.
Die HGe 4/4 II war somit eine der ersten Lokomotiven, die in der Designphase von diesen Erkenntnissen profitieren konnte. Man wollte versuchen, einen Zustand mit geregelten Makroschlupf zu erreichen, was dank schnellen analogen Regelungen machbar schien. Aus heutiger Sicht waren das natürlich nur erste Gehversuche, da mit analoger Elektronik nur Begrenzer, Addierer und Multiplizierer realisiert werden konnten und die Optimierung nur mühsam durch Aus- und Einlöten von Widerständen und Kondensatoren mit anderen Nennwerten erfolgen konnte. Schnelle Rechner, die online Softwareänderungen erlauben und Simulationssoftware waren damals undenkbar.
Zur Erzeugung einer verschmutzten Schiene wurde vor der HGe 4/4 II Schmierseifenlösung auf das Gleis gespritzt. Der Autozug samt elektrisch bremsender Ge 4/4 III diente als Anhängelast. Im Tunnel wurde in Steigungen angehalten und danach wieder beschleunigt und dabei das Verhalten der Lokräder aufgezeichnet wurde. Aus den Aufzeichnungen wurden Schlüsse gezogen, in welche Richtung man bei der nächsten Fahrt weiter optimieren wollte…
Nach einigen Fahrten konnte man als Beobachter im Führerstand folgendes erleben: der Zug steht in der Ausweichstation in Tunnelmitte. Nach Einfahrt des Kreuzungszuges wird der Absperrhahn zum Spritzen der Schmierseife geöffnet und der Lokführer erhält den Auftrag „Handrad in den Anschlag drehen und dann so stehen lassen“, sprich die maximale Beschleunigung vorwählen. Der Geschwindigkeitsmesser springt schlagartig auf rund 5 km/h, der Tunnel wird von unten (und oben) hell erleuchtet und man hört ein Pfeifen, manchmal ein kurzes Scharren. Der Zug setzt sich in Bewegung und beschleunigt zügig und kontinuierlich, was auch an der Geschwindigkeitsanzeige zu sehen ist. Auf der Ausfahrweiche erreichen wir (wenn ich mich richtig erinnere) gegen 60 km/h, was der Lokführer ungläubig kommentiert: mit dem Tunnelmolch (Ge 4/4 III) müssen wir froh sein, wenn wir hier mit 5 bis 10 km/h rausschleichen.
Zugegeben, die HGe 4/4 II bringt im Vergleich zur Ge 4/4 III einiges zusätzliches Adhäsionsgewicht auf die Schiene und sie hat wegen des Zugkraftbedarfs auf der Zahnstange auch eine deutlich höheres Drehmoment (=Zugkraft) im tiefen Drehzahlbereich. Dass dies auch genutzt werden kann, ist dem schnellen geregelten Schleuderschutz zu verdanken.
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